Beteiligung und Befähigung von Kindern und Jugendlichen im Beratungsprozess
Methodischer Ansatz
Ein empirisch fundiertes Verständnis kommunikativer Schwierigkeiten in der Betreuung und Beratung von Kindern und Jugendlichen mit Gewalterfahrungen soll mittels eines gesprächsanalytischen Untersuchungsansatzes ethnografischer Ausrichtung erarbeitet werden. Der gesprächsanalytische Untersuchungsansatz wird in der sprach- und sozialwissenschaftlichen Forschung seit über 30 Jahren dazu genutzt, kommunikatives Handeln und Interaktionsabläufe in professionellen Handlungsfeldern zu untersuchen. Seine Fruchtbarmachung für die professionelle Kommunikation in psychosozialen Arbeitsfeldern steckt allerdings noch in den Anfängen. Das Projekt BeKinBera will auch zur Verbesserung dieser Situation einen Beitrag leisten.
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Gesprächsanalyse ethnografischer Ausrichtung
In der Gesprächsanalyse ethnografischer Ausrichtung (Schütze, 1987a, 1987b, 1994; Deppermann, 2000; Scheffer, 2001; Reitemeier, 2006, 2012) wird eine Untersuchungshaltung eingenommen, die die Lebenswirklichkeit der Handelnden, ihre Sichtweisen darauf sowie die Steuerungswirksamkeit dieser Weltsichten in interaktiven Prozessen zu erfassen sucht (Schütze, 1994).
Die ethnografisch orientierte Gesprächsanalyse fragt nicht allein nach den Ordnungsstrukturen in einem Gespräch, sondern auch nach den sozialen Einbettungsverhältnissen von Kommunikationsereignissen. Vor allem in Situationen unter Beteiligung professionell Handelnder sind vorgängige und übergreifende Prozesse interaktionsrelevant. Daher geht es in diesem Untersuchungsansatz nicht bloß um kommunikative Aktivitäten der Beteiligten, sondern auch um Bezüge zu sozialweltlichen Abläufen, biografischen Prozessen und existenziellen Lebensschwierigkeiten beteiligter Akteure, darum, wie sich soziale Rahmenbedingungen und übergreifende soziale Prozesse in der Gestaltung von Gesprächssituationen sowie im Erleben und Verhalten der Akteure (Schütze, 1994) niederschlagen.
Die ethnografisch orientierte Analyse untersucht Gesprächsaktivitäten in ihrer Funktion für die Hervorbringung des Gesamtereignisses oder bestimmter Gesprächsphasen. Sie untersucht sie darüber hinaus auch darauf hin, wie die Beteiligten selbst das aktuelle Geschehen verstehen, wie dieses Verständnis in ihre kommunikative Beteiligungsweise eingeht, von welchem Sinn und welchen Handlungsressourcen sie Gebrauch machen, wie sie sich dabei auf kontextuelle Bedingungen beziehen und diese für das aktuelle Gespräch relevant machen. Solche Vorgänge im Gespräch werden unter Einnahme der Analyseperspektive der »pragmatischen Brechung« (Schütze, 1994) untersucht, das heißt: Gesprächsaktivitäten der Beteiligten werden sowohl in ihrer Funktion für die jeweilige Rolle im Interaktionsfeld und für den Umgang mit situativen Anforderungen als auch in ihrer Funktion für die Auseinandersetzung der jeweiligen AkteurInnen mit ihrer jeweiligen biografischen Situation und mit ihren institutionen- und milieuspezifischen Handlungsrelevanzen bestimmt.
In dieser analytischen Einstellung geht es nicht darum, Aussagen darüber zu treffen, wie gut oder wie schlecht, wie professionell oder wie dilettantisch, wie moralisch oder wie unmoralisch AkteurInnen handeln, sondern zunächst einmal nur darum, im Sinne Goffmans (1983) zu klären, was in einer bestimmten Situation vor sich geht, darum, ihre "Bedeutungskomplexität und Strukturierungstiefe" (Schütze, 1994) zu erfassen. Die so gewonnenen Einblicke in Interaktionsprozesse können sodann als Impuls zur selbstreflexiven Auseinandersetzung mit strukturellen Bedingungen des Handelns sowie mit der Funktionalität der verwendeten kommunikativen Praktiken wie auch ihrer Alternativen genutzt werden.
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Sequenzanalyse
Empirische Untersuchungen von Gesprächssituationen erfolgen unter Heranziehung von Konzepten der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Bergmann, 1980, 2000; Deppermann, 2008; Hitzler & Messmer, 2008; Hitzler, 2012), mittels sequenzieller und fallvergleichender Analysestrategien und unter Einbeziehung ethnografischen Wissens über Kontextbedingungen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der sequenzanalytische Blick auf Interaktionsdokumente und Gesprächstranskripte. Die Sequenzanalyse ist eine auf singuläre Interaktionsereignisse gerichtete Untersuchungsmethode. Sie arbeitet heraus, wie das Ereignis insgesamt aufgebaut ist, also aus welchen in sich abgrenzbaren Einheiten und Gesprächssequenzen es besteht. Wichtige Anhaltspunkte für die Unterscheidung von Gesprächsabschnitten liefert die Organisation des SprecherInnenwechsels, also die Regelungsmechanismen für das Innehaben bzw. den Wechsel des Rederechts. Wie das Rederecht ausgeschöpft wird, wie damit bestimmte Folgehandlungen anderer Beteiligter erwartbar gemacht werden, liefert ebenfalls Hinweise auf in sich abgrenzbare Gesprächssegmente. Aufgabe dieses Analyseganges ist es, die Sequenzierungsmechanismen zu bestimmen, nach denen bestimmte Interaktionsabschnitte gestaltet werden. Beispiele für sequenzielle Mechanismen sind die Abfolge von Gruß und Gegengruß, von Frage und Antwort oder von Frage und Gegenfrage, von Anschuldigung und Rechtfertigung usw.
Die Sequenzanalyse gibt zum einen Aufschluss über die Abschnitte, aus denen das Ereignis aufgebaut ist, und darüber, wie diese Aktivitätseinheiten aufeinander bezogen sind (Beispiel: Small-Talk-Phasen vor dem Einstieg in eine ernsthafte Diskussion oder eine Verhandlungssituation). Zum anderen wird das sequenzanalytische Vorgehen eingesetzt, wenn ein bestimmter Gesprächsabschnitt von besonderem Interesse für die forschungsleitende Fragestellung ist. Es wird dann kleinschrittiger und mit stärkerer Fokussierung einzelne Redezüge angewandt. Dabei geht es aber nicht etwa darum, einzelne Äußerungen isoliert zu betrachten, sondern es geht darum, sie in ihrer äußerungsstrukturellen Einbettung zu erfassen, sodass sie in ihrer Funktion für den Gesprächsverlauf bzw. den sequenziellen Prozess der Herstellung einer bestimmten Interaktionsordnung beschrieben werden können. Dazu muss strikt auf die Besonderheiten der sprachlichen Realisierung einer Äußerung (Prosodie, Wortwahl, Grammatikalität, stilistische und dialektale Merkmale) geachtet werden. Diese Realisierungsmerkmale sind auf ihren Aussagewert bezüglich ihrer Bedeutungsimplikationen und bezüglich ihrer Funktionalität für die Rolle des Beteiligten zu untersuchen. Rekonstruiert wird dabei, wie mit einer Äußerung auf vorgängige Gesprächsbedingungen reagiert wird und wie neue Gesprächsbedingungen relevant gemacht werden. Auf diese Weise wird eine bestimmte Sequenz oder auch eine größere Gesprächseinheit als ein interaktiver Prozess transparent, der durch den kommunikativen Aufbau von Reaktionsverpflichtungen und deren Bearbeitungsweisen hervorgebracht wird.
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Narrative Therapy
Anwendung findet dabei der im nordamerikanisch-kanadisch-australischen Raum von Michael White und David Epston begründete Beratungsansatz (theoretisiert als Narrative Therapy) zur Entwicklung personaler Agency und dialogischer Wissensbildung über sich selbst (vgl. u.a. White & Epston, 2006). Dieser narrative Beratungsansatz zielt auf die Herausarbeitung verborgener Selbstwirksamkeitspotenziale – insbesondere bei traumatischen Erfahrungen (White, 2009). Weitere rahmentheoretische Einbettung ist die tätigkeitsorientierte Entwicklungspsychologie (Vygotskij, 1934/2002), nach der sich Bewusstseinsbildung und kognitive Bildungsprozesse über das Sprechen vollziehen.
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Forschungsmethodisches Design
Folgende methodische Sequenzen sind für die Studie geplant:
  • Fortbildung zur Narrativen Gesprächsorientierung von Michael White und David Epston für die KooperationspartnerInnen;
  • Durchführung von alltäglichen Gesprächssituationen in Institutionen mit Kindern/Jugendlichen sowie als sog. »Beratungsgespräche« gerahmte Interaktionssituationen,;
  • Durchführung narrativ orientierter Kinderinterviews (Flick, 2009) auf der Basis bildlich-symbolischer Zugangsformen und anschließender narrationsanalytischer Auswertung;
  • Digitalisierte Aufnahmen und deren vollständige Transkription;
  • Ethnografische Gesprächsanalyse kommunikativ verfasster Interaktionssituationen zwischen Professionellen und Kindern/Jugendlichen.
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Literatur
Bergmann, Jörg R. (1980). Interaktion und Exploration. Eine konversationsanalytische Studie zur Eröffnung von psychiatrischen Aufnahmegesprächen. Dissertation. Konstanz: Universität Konstanz.
Bergmann, Jörg R. (2000). Konversationsanalyse. In Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 524-537). Reinbek: Rowohlt.
Deppermann, Arnulf (2000). Ethnographische Gesprächsanalyse: Zu Nutzen und Notwendigkeit von Ethnographie für die Konversationsanalyse. Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 1(1), 96-124 (online verfügbar [05.06.2013]).
Deppermann, Arnulf (2008). Gespräche analysieren. Eine Einführung in konversationsanalytische Methoden. Wiesbaden: VS.
Flick, Uwe (2009). Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek: Rowohlt.
Goffman, Erwing (1983). The interaction order. American Sociological Review, 48(1). 1-17.
Hitzler, Sarah (2012). Aushandlung ohne Dissens? Praktische Dilemmata der Gesprächsführung im Hilfeplangespräch. Wiesbaden: VS.
Hitzler, Sarah & Messmer, Heinz (2008). Gespräche als Forschungsgegenstand in der Sozialen Arbeit. Zeitschrift für Pädagogik, 54(2), 244-260.
Reitemeier, Ulrich (2006). Aussiedler treffen auf Einheimische. Paradoxien der interaktiven Identitätsarbeit und Vorenthaltung der Marginalitätszuschreibung in Situationen zwischen Aussiedlern und Binnendeutschen. Tübingen: Narr.
Reitemeier, Ulrich (2012). Ethnische Identitätsorientierungen als Themenpotential im Unterricht. Deutsche Sprache, 40(4), 327-342.
Scheffer, Thomas (2001). Asylgewährung. Eine ethnografische Verfahrensanalyse. Stuttgart: Lucius.
Schütze, Fritz (1987a). Die Rolle der Sprache in der soziologischen Forschung. In Ulrich Ammon, Norbert Dittmar & Klaus J. Mattheier (Hrsg.), Sociolinguistics - Soziolinguistik. An international handbook of the science of language and society - Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprachen und Gesellschaft (S. 413-431). Berlin: de Gruyter.
Schütze, Fritz (1987b). Situation. In Ulrich Ammon, Norbert Dittmar & Klaus J. Mattheier (Hrsg.), Sociolinguistics - Soziolinguistik. An international handbook of the science of language and society - Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprachen und Gesellschaft (S. 157-164). Berlin: de Gruyter.
Schütze, Fritz (1994). Ethnographie und sozialwissenschaftliche Methoden der Feldforschung. Eine mögliche methodische Orientierung in der Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit? In Norbert Groddeck & Michael Schumann (Hrsg.), Modernisierung Sozialer Arbeit durch Methodenentwicklung und -reflexion (S. 189-297). Freiburg: Lambertus.
Vygotskij, Lev Semjonowitsch (2002). Denken und Sprechen. Psychologische Untersuchungen. Weinheim: Beltz (russisches Original erschienen 1934).
White, Michael (2009). Kinder, Trauma und das (Wieder)erschließen von »unterdrückten« Geschichten. systhema, 23(1), 7-24.
White, Michael & Epston, D. (2006). Die Zähmung der Monster. Der narrative Ansatz in der Familientherapie (5. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer-Verlag (amerikanisches Original erschienen 1990).
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Forschung für die Praxis, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst
Hochschule Wiesbaden, ISAPP
Institut für Deutsche Sprache
Stadt Wiesbaden, Schulamt
AWO Wiesbaden, Frauenhaus
Erziehungsberatung Adelheidstraße
Traumapädagogisches Institut Norddeutschland
SOS-Kinderdorf Worpswede
Diakonie Wiesbaden, Therapie-Zentrum
Haus für Frauen in Not, Bad Schwalbach
Makista e.V. - Bildung für Kinderrechte und Demokratie
Modellschul-Netzwerk für Kinderrechte Rhein-Main
Re-Authoring Teaching - Creating a collaboratoy
Die Lobby für Kinder - Ortsverband Wiesbaden